Bericht aus dem Ahrtal 2
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„All dies steht nicht nur für Leid, sondern auch für Aufbruch“
Von Tobias Greilich | 16.10.2021
Meinen letzten Lagebericht hatte ich am 2. September, sechs Wochen nach der Flutkatastrophe, geschrieben. Nun sind erneut sechs Wochen vergangen und ich möchte meine Reise vom 15. Oktober zum Anlass für ein Update nehmen. Während es mir bei meinem letzten Lagebericht vor allem darum ging, das Ereignis einzuordnen, ein Schadensbild zu zeichnen und die Lage der Menschen zu beschreiben, möchte ich diesmal aufzeigen, was sich in den letzten sechs Wochen verändert hat und wie sich die aktuelle Lage für das Ahrtal darstellt.
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Tobias Greilich leitet als Vorsitzender der Aktion Hessen hilft e. V. auch deren Fluthilfe 2021, nachdem er bereits 2002 und 2013 für die Hochwasserhilfe der Aktion Hessen hilft e. V. an der Elbe verantwortlich war. Er berichtet regelmäßig aus dem Ahrtal. Zum besseren Verständnis empfiehlt es sich, zunächst seinen letzten Bericht zu lesen.
Tobias Greilich aktuell in Bad Neuenahr-Ahrweiler
Bilddownload: Tobias Greilich
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Ich hatte jetzt erstmals die Möglichkeit, in aller Ruhe, ohne Zeit- und Termindruck, Ort für Ort, den wesentlichen Teil des Ahrtals abzufahren von der Verbandsgemeinde Adenau über die Verbandsgemeinde Altenahr bis nach Bad Neuenahr-Ahrweiler und beispielsweise Schuld, Insul, Hönningen, Kreuzberg, Altenahr, Mayschoß, Rech, Dernau, Walporzheim, Ahrweiler, Bad Neuenahr usw. zu sehen.
Es ist nach wie vor bedrückend, all die unvorstellbare Zerstörung zu erleben und die Schicksale dahinter zu erahnen, nach wie vor ist man erschüttert, was in Deutschland passieren kann – aber auch, wieviel nach einem Vierteljahr noch nicht passiert ist.
Symptomatische Veränderungen
Nein, ich will nichts schlechtreden, und ich will ja auch darauf eingehen, was sich in den letzten sechs Wochen getan hat. Aber ich kann absolut nachvollziehen, dass die Menschen in der Region Angst vor der Zukunft haben, dass sie den Winter kommen sehen und dass sie sich sorgen, vergessen zu werden.
Das inzwischen aufgelöste imposante Verpflegungszentrum des DRK in Grafschaft steht beispielhaft für einen spürbaren Rückzug der Hilfsorganisationen. Ich könnte ebenso die ASB-Unfallhilfestelle in Mayschoß als Beispiel anführen. Neben unzähligen Baumaschinen prägen Polizei und Technisches Hilfswerk das Straßenbild, aber außer einigen DRK-Fahrzeugen erkennt man organisierte Hilfe nur noch vereinzelt. Private Helfer in ihren gelben Westen sieht man hingegen (noch) überall.
Auffällig ist der zwischenzeitliche Bau zahlreicher Behelfsbrücken, die wieder eine gewisse Mobilität in der Region ermöglichen. Nur wenige Strecken, etwa zwischen dem Tunnel in Altenahr und der Lochmühle in Mayschoß, sind noch gesperrt. Allerdings darf der Brückenbau nicht über den allgemeinen Zustand der Infrastruktur hinwegtäuschen, die vielerorts ein „normales“ Leben noch nicht wieder erlaubt. Nach wie vor gehören IBC-Container mit Trinkwasser, mobile Toiletten, Stromaggregate und provisorische Versorgungsleitungen zum Landschaftsbild.
Als ich vor einigen Wochen das letzte Mal in Rech war, hatte mich ein Gebäude sehr bewegt, von dem „nur“ die Fassade eingestürzt war; im Obergeschoss stand noch die Küchenzeile mit dem Topf auf dem Herd. Wie viele andere Häuser musste jedoch auch dieses Haus inzwischen teilabgerissen werden. In Dernau sahen wir weitere Abrissarbeiten, mit denen man einem unkontrollierten Einsturz zuvorkommen will.
Ebenso hatte mich dort ein Hotel berührt, das bereits mit großen Lettern zur „Eröffnungsparty“ vom „14.-15.7.22“ als „Party für alle Helfer“ eingeladen hatte. Was ich schon in Social Media las, erwies sich nun als traurige Gewissheit: Auch dieses Hotel wurde inzwischen teilabgerissen.
Über Mutmacher und Solidarität
„Trotzdem“ hat vermutlich etwas mit „Trotz“ zu tun. Also: „Trotzdem“ lassen sich die Menschen nicht unterkriegen. Gerade die Verbindung der Einheimischen mit den auswärtigen Helfern wirkt wie ein festes Band. Wortspiele von „SolidAHRität“ bis „We AHR Family“ verbinden, an einer Hausfassade in Dernau kann man lesen „Das WIR zählt!“ und „Alle 11 Minuten verliebt sich ein Helfer ins Ahrtal“. In jedem Dorf, an unzähligen Häusern, stehen Dankesbekundungen an die Helfer.
Einerseits sieht man kaum Menschen auf der Straße, viel weniger jedenfalls als noch vor einigen Wochen. Andererseits wird überall weiter aufgeräumt, entsorgt, gebaut, winterfest gemacht – und die Helfer sind mit dabei. Ihnen werden kostenlose Unterkünfte bereitgestellt, sie werden kostenlos verköstigt – auch wir sind in Rech in den Genuss einer warmen Erbsensuppe gekommen.
Zum Trotz, zum Nichtentmutigenlassen, zum Dableibenwollen gehört aber auch dies: Direkt am Ahrufer in Mayschoß wurde aus Holzlatten ein Kunstwerk geschaffen, das drei Bäume in Lebensgröße darstellt, die ein gemeinsames Dach bilden. Hundert Meter weiter kann man Bändchen mit selbst getexteten Hoffnungen und Wünschen an die Uferbrüstung hängen. Direkt daneben wurde ein Denkmal repariert, das durch die Flut beschädigt wurde, und das Blumenbeet davor neu angepflanzt.
Das mag nicht zum Nötigsten, zum Lebenswichtigen gehören, aber es entfaltet eine unglaubliche positive, motivierende, Mut machende, Zuversicht gebende Wirkung. Andernorts wurden Spielplätze neu gestaltet und Erinnerungsorte für Flutopfer geschaffen – und überall damit begonnen, die überfluteten Friedhöfe wiederherzustellen, die umgeworfenen Grabsteine wiederaufzurichten, die Gräber wieder zu bepflanzen. Die Menschen bewahren so ihren Verstorbenen die Erinnerung und sich selbst ihre Würde.
Zur Lage der Schulen
In Bad Neuenahr-Ahrweiler sind gleich mehrere Schulen am südlichen Ahrufer entlang aufgereiht wie die Perlen auf einer Kette: die Don-Bosco-Schule, die Levana-Schule, die Erich-Kästner-Realschule Plus, das Peter-Joerres-Gymnasium, die Privatschule Carpe Diem bis hin zum Are-Gymnasium, dazwischen Kindergärten, Sporthallen und Außenanlagen, Tennisplätze, Hallenbad, Therme, Jugendherberge usw.
Die Don-Bosco-Schule und die Levana-Schule haben wir an ihren Ersatzschulstandorten in Wimbach und Neuwied besucht und mit Spenden unterstützt. Den Stand der Aufräumarbeiten in Bad Neuenahr-Ahrweiler haben wir uns ganz aktuell nochmal angesehen: Die zerstörten Fensterelemente der Don-Bosco-Schule wurden durch Sperrholzplatten verschlossen, aber ansonsten ist die Schule mit ihren Helfern noch immer dabei, den Schlamm aus dem Gebäude zu schaffen.
Das Peter-Joerres-Gymnasium (PJG) ist schon weiter; mit schwerem Gerät konnte das betroffene Erdgeschoss bereits beräumt werden. Ein übergroßes Transparent mit der Aufschrift „PJG FOR FUTURE“ und zahlreichen Unterschriften zeugt von der Entschlossenheit der Schule. Im Gespräch mit dem Hausmeister haben wir erfahren, dass der an das Gymnasium Calvarienberg ausgelagerte Schulbetrieb nach den Weihnachtsferien wieder am eigentlichen Schulstandort aufgenommen werden soll.
Ganz anders ist die Lage am Are-Gymnasium, und weil man hier noch immer in bedrückender Weise sehen kann, was eine solche Flutkatastrophe mit einer Schule macht, möchte ich etwas weiter ausholen. Auch dieser Schulstandort ist geschlossen und ausgelagert. Am Gebäude kann man sehen, dass die Schule fast 1,50 m unter Wasser stand.
Schon vor dem Schulgebäude stapelt sich aufgequollenes, kontaminiertes Holz. Das ganze Ausmaß wird jedoch deutlich, wenn man auf den Schulhof kommt: Bergeweise (im wahrsten Sinne des Wortes) türmen sich nach Müllsorten getrennt
- durchfeuchtete Dämmung
- aufgequollene Rigipsplatten
- verbogene Ständerwände, Heizkörper und weiterer Metallschrott
- zerstörte Kühlschränke und Küchengeräte
- Sportgeräte, Fensterrahmen und weitere Kunststoffteile
- herausgestemmter Estrich
- Holz
- kontaminierter Teppich und sonstige Fußbodenbeläge
- sowie weiterer Bauschutt
im Schulhof auf, wo bis zum Sommer noch Kinder spielten – auch an den jetzt vereinsamt herumstehenden Tischtennisplatten.
Ich glaube, man muss sich bewusst machen, womit man es zu tun hat, um es zu verstehen. Ich bin selbst seit vielen Jahren als Schulelternbeiratsvorsitzender eines Gymnasiums und einer Grundschule engagiert und glaube, ein Gefühl dafür zu haben.
Es macht mich traurig, dort einen riesigen Altpapierhaufen voller Bücher liegen zu sehen: Chemie- und Mathe-, Kunst- und Lateinbücher, Duden und Englisch-Wörterbücher, teure Atlanten – und dazwischen der Materialienordner eines Schülers oder auch das Vorstellungsplakat für den Französisch-Unterricht von einer Schülerin, die dem Plakat zufolge aus dem Kosovo stammt (und noch ganz anderes erlebt haben dürfte).
Es schmerzt mich, in all dem Müll z. B. Computer oder ein Whiteboard zu sehen – Errungenschaften, für die jede Schulgemeinde lange kämpfen musste.
Ein Schild erinnert an das Projekt „Biodiversität“ – jetzt steht es umgeben von Steckdosen, PC-Tastaturen und anderem Elektroschrott. Und mitten in einem Müllhaufen liegt ein altes Schild mit dem Wappen der Schule, die 2007 ihr 60-jähriges Bestehen feierte.
An allen Ecken und Enden wird das Herzblut einer Schulgemeinde deutlich, das sich jetzt im Abfall wiederfindet. Und trotzdem: Nicht nur die Müllberge, sondern auch die herausgestemmten Fußböden etwa in Foyer und Sporthalle, der Radlader auf den Schulhof oder der Minibagger im Foyer, herumstehende Besen, Schaufeln und Schubkarren – all dies steht nicht nur für Leid, sondern auch für Aufbruch. Es zeigt, wie viel schon getan wurde, was aber auch noch zu tun ist – und steht damit beispielhaft für das ganze Ahrtal.
Wir haben der Schule spontan eine Geldspende aus den uns zur Verfügung stehenden Mitteln sowie diverse Sachgüter als Unterstützung angeboten und hoffen, so einen kleinen Beitrag leisten zu können.
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Zahlreiche Fotos zu diesem Lagebericht finden Sie unter https://www.aktionhessenhilft.de/de/projekte/hochwasser_2021/fotos2/