Bericht aus dem Ahrtal

  • „Zerstörungen wie nach einem Krieg“


    Von Tobias Greilich | 02.09.2021

     

    Im Ahrtal hat sich Mitte Juli 2021 eine Flutkatastrophe mit einem Ausmaß zugetragen, das es in Deutschland seit Jahrzehnten nicht gab. Regional begrenzt, hat die Gewalt des Wassers einzelne Ortschaften völlig zerstört. Tobias Greilich berichtet aktuell aus der Region.

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  • Tobias Greilich hat als Vorsitzender der Aktion Hessen hilft e. V. mehrere Hilfsprojekte nach großen Flutkatastrophen geleitet. Für seine Einsätze bei der Hochwasserhilfe 2002 und 2013 wurde er mit den Sächsischen Fluthelfer-Orden 2002 und 2013, der Hochwasser-Medaille 2002 und der Fluthelfernadel 2013 des Landes Sachsen-Anhalt, der Ehrennadel an Helferinnen und Helfer bei Flutkatastrophen des Landes Mecklenburg-Vorpommern sowie der vom Bundesminister des Innern gestifteten Einsatzmedaille „Fluthilfe 2002“ ausgezeichnet. Zuletzt hat er 2014 ein Hochwasserhilfe-Projekt in Serbien und Bosnien-Herzegowina, das zu einem Viertel unter Wasser stand, geleitet.

    Tobias Greilich aktuell in Mayschoß im Ahrtal

    Foto: Noah Wagner

    Bilddownload: Tobias Greilich

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  • Einordnung


    Die Flutkatastrophen, die ich in der Vergangenheit miterlebt habe, verliefen meistens nach folgendem Schema: Die Pegelstände der Flüsse sind in einiger Entfernung angestiegen, es gab zunehmende Warnmeldungen, ein, zwei Tage später sind die Wassermassen eingetroffen. Im besten Fall konnten die betroffenen Menschen sich vorbereiten, materielle und ideelle Werte in die Obergeschosse ihrer Häuser bringen, dann breitete sich das eintreffende Hochwasser mehr oder weniger langsam, aber stetig aus und überschritt in der Fläche meistens auch nicht das Erdgeschoss.

     

    Die damit verbundenen Schäden waren schlimm genug, gar keine Frage! Es macht fast keinen Unterschied, ob eine Wohnung 10 cm oder 1 m unter Wasser stand – bis auf das Mauerwerk ist alles, was nass wurde, kaputt: Türen, Elektrogeräte, Möbel, Elektroinstallationen, Fußböden usw. Aber ich war in Hochwassergebieten, in denen zwar das Inventar zerstört war, sich eine Schlammschicht durch die Wohnung verteilte, aber selbst die Glasscheiben der Terrassentüren intakt geblieben waren.

     

    Ich will nichts relativieren, viel zu sehr habe ich das Leid der betroffenen Menschen erlebt und mit viel zu viel Herzblut habe ich monatelang Hilfsmaßnahmen vor Ort organisiert. Aber von Deichbrüchen mit plötzlichen Wassereinbrüchen abgesehen, habe ich in Deutschland niemals Hochwasserschäden gesehen, die an die des Ahrtals heranreichen!

     

    Ahrtal


    Die bloßen Zahlen lassen schon aufhorchen: Wann sind in Deutschland das letzte Mal 183 Menschen auf einen Schlag gestorben? Ich kann mich an keine Naturkatastrophe, kein Zugunglück oder ähnliches erinnern. Solche Todeszahlen dürfte es zum letzten Mal im Zweiten Weltkrieg gegeben haben. Und von diesen 183 Menschen entfielen 132, also über 70 %, auf den kleinen Landkreis Ahrweiler im Norden von Rheinland-Pfalz.

     

    Das oft gezeichnete Bild, ein Schadensort sehe aus wie nach einem Krieg, trifft im Ahrtal tatsächlich zu! Natürlich sind mir die Schadensbilder von Tsunamis, Erdbeben, Wirbelstürmen bekannt; nach all solchen Naturkatastrophen hat die Aktion Hessen hilft e. V. in den vergangenen 30 Jahren Hilfe geleistet. Mich persönlich erinnert das Ahrtal jedoch am ehesten an das kriegszerstörte ehemalige Jugoslawien in den 1990er Jahren, und ich hätte nicht gedacht, dass solch eine Zerstörung im Deutschland des 21. Jahrhunderts möglich ist!

     

    Schadensbild


    Viel ist von manch idyllischem Ort im Ahrtal nicht übrig geblieben. Fährt man ganz aktuell von Heimersheim über Bad Neuenahr-Ahrweiler, Dernau, Rech und Mayschoß in Richtung Altenahr, versteht man, welche Kraft Wasser haben kann: Die vierspurige B266 wurde unterspült, ist teilweise in die Ahr gerutscht. Überall wurden Uferbefestigungen, Eisenbahngleise, Straßen weggerissen; vielfach sind Straßenverbindungen gesperrt, Hilfsstrecken führen durch Weinberge und ehemalige Gleisbetten, sind nur mit geländefähigen Fahrzeugen befahrbar. Mich erinnern diese Schotterpisten an den Balkan.

     

    Meterhohe Bäume und anderes Treibgut, das zum Teil heute noch am Straßenrand liegt, hatte sich oft an Engstellen aufgetürmt, bis die Wasserkraft Straßen, Brücken und sonstige Hindernisse regelrecht gesprengt hat. Massivste Brückenpfeiler wurden unterspült und verschoben, die Betonsockel zerteilt, Brückenbögen abgerissen, Eisenbahnbrücken aus Stahl weggespült. Es wird Jahre dauern, bis die Infrastruktur wieder aufgebaut ist.

     

    Wenn solche Gewalt auf einfache Häuser trifft, werden nicht nur Fundamente unterspült sowie Fenster, Türen und Garagentore vom Wasser eingedrückt. 8.800 Häuser sind erheblich beschädigt oder zerstört. In manchem Haus, in dem „nur“ die Fassade eingestürzt ist, steht im Obergeschoss noch die Küchenzeile mit dem Topf auf dem Herd. Von anderen Häusern sind nur Schutthaufen übriggeblieben, die aussehen wie nach einem Bombeneinschlag. Vielerorts sind die ehemaligen Pegelstände bis zum Dachgeschoss erkennbar. Derart betroffenen Menschen blieb nichts von ihrem bisherigen Leben!

     

    An unzähligen Häusern prangen Markierungen, wo ein Verstorbener im Haus gefunden wurde, wo noch Öl abzupumpen ist, wo das ganze Haus abgerissen werden muss. Viele Häuser sind mit „Betreten verboten“ gekennzeichnet, zu groß ist die Einsturzgefahr, Gutachter sind unterwegs und verfügen über den Abriss. Neue „Baulücken“ zeugen davon, wie viele Häuser schon abgerissen wurden, damit sie nicht unkontrolliert einstürzen.

     

    Vor vielen Häusern stehen IBC-Container, in die das Öl aus den dortigen Öltanks abgepumpt wurde. Dennoch hat sich – wie nach jeder Hochwasserkatastrophe – ein Gemisch aus dem Sprit aufgerissener Autotanks und dem Heizöl geplatzter Öltanks, aus Fäkalien und Kadavern, aus häuslichem und gewerblichem Unrat sowie Chemikalien großflächig in der Landschaft verteilt. Selbst der aufgewirbelte Straßenstaub ist voller Schadstoffe. Die Polizei setzt martialisch anmutende Wasserwerfer zur Straßenreinigung ein.

     

    Vom Mut zu bleiben


    Nach dem Wasser kommt das Ausräumen, nach dem Ausräumen wird jedes Haus entkernt: Fußböden, Fliesen, Putz – alles muss ab und raus, damit die Häuser austrocknen können. Bautrockner sind derzeit höchst begehrt.

     

    Vom Ausräumen zeugt der Sperrmüll am Straßenrand und die meterhohen, notdürftigen Deponien alle paar Kilometer. Hier findet sich Hausrat jedweder Art, der oft noch von den Menschen zeugt, deren Hab und Gut er war. Noch immer stehen verschlammte Autos am Straßenrand, es sind regelrechte Autofriedhöfe entstanden, insgesamt sollen 40.000 Autos in den Flutgebieten angespült worden sein. Abschleppwagen sind noch immer im Dauereinsatz. Hin und wieder liegen noch umgestürzte Wohnwagen wild in der Gegend, die von irgendwoher angespült wurden.

     

    Betroffen sind die Menschen nicht nur in ihren Wohnhäusern, sondern auch an den Orten ihres gesellschaftlichen Miteinanders: Kirchen, Schulen, soziale Einrichtungen, Friedhöfe, Denkmäler – nichts blieb verschont, und es gibt einzelne Ecken im Ahrtal, bei denen man bezweifeln darf, dass sie jemals wieder vollständig aufgebaut werden. Viele der bekannten Weingüter und Hotels werden nicht mehr öffnen, die romantische Region wird ihren Charakter verändern.

     

    Auch wenn die Aufräumarbeiten laufen, sind die meisten Menschen noch weit davon entfernt, wieder in ihr Haus einziehen zu können. An Reparatur- oder Wiederaufbauarbeiten ist vielfach noch gar nicht zu denken – obwohl die kalte Jahreszeit unmittelbar bevorsteht. Während die Wasserversorgung – auch dank ergänzender, mobiler Wasserlieferungen – halbwegs stabil ist, wird die verschlammte Kanalisation noch durchgespült. Kleinere Teile des Ahrtals haben noch keinen Strom. Und mit Hochdruck wird an einer provisorischen Gasversorgung gearbeitet, um möglichst bald ein notdürftiges Wärmenetz zu schaffen. Dennoch stellen die Behörden ganz aktuell klar, dass schätzungsweise 10.000 Menschen nicht zeitnah wieder an das Gasnetz angeschlossen sein werden und mindestens zum Teil in Notunterkünften untergebracht werden müssen.

     

    Ich kann jeden verstehen, der unter solchen Bedingungen resigniert und aufgibt. Es mag Mut dazu gehören, seine Heimat zu verlassen und wegzugehen. Angesichts der Lage vor Ort gehört aber viel mehr Mut dazu, zu bleiben, sich der Herausforderung zu stellen und die Region wiederaufzubauen!

     

    Und nun?


    Als Aktion Hessen hilft e. V. wollen wir auch mittel- und langfristig genau dabei helfen. Die Bundeswehr hat ihren Einsatz Ende August beendet. Jede Hilfsorganisation wird für sich einen eigenen Zeitpunkt festlegen, wann sie ihre Hilfe für nicht mehr erforderlich erachtet oder die zur Verfügung stehenden Mittel ausgegeben hat.

     

    Es ist jedoch absehbar, dass die Arbeiten, die zu Winterbeginn nicht abgeschlossen sind, im Frühjahr weitergehen müssen. Dass diejenigen, die in der „heißen Phase“ nach der Katastrophe keine oder zu wenig Hilfe bekommen haben, im nächsten Jahr darauf angewiesen sein werden. Kurzum: dass nicht nur kurz-, sondern auch mittel- und langfristig Unterstützung benötigt wird.

     

    Wir denken dabei nicht nur an die Einzelfallhilfe für besonders Hilfsbedürftige, sondern auch an die Ausstattung sozialer Einrichtungen, die über das hinausgeht, was der Staat leisten kann bzw. leistet, z. B. an Schulen und Kindertagesstätten.

     

    Wir veröffentlichen unter www.hessen-hilft.de eine aktuelle Bedarfsliste. Wir bitten Hersteller und Händler darum, entsprechende Güter als Sachspende zur Verfügung zu stellen, und Schulen, uns durch den Organisation von Sponsorenläufen zu unterstützen. Für Geldspenden auf unser Spendenkonto sind wir sehr dankbar!

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  • Zahlreiche Fotos zu diesem Lagebericht finden Sie unter https://www.aktionhessenhilft.de/de/projekte/hochwasser_2021/fotos/